Unsere Arbeitswelt ist VUKA: volatil, unsicher, komplex, ambivalent. Seit Corona sogar noch mehr. Unternehmen aber können lernen, mit dem steten Wandel umzugehen und ihn für sich zu nutzen. Coach Mario Leutner weiß, wie das geht
Schon vor der Corona-Krise waren viele Unternehmen im Südwesten für die Herausforderungen der VUKA Welt nur mäßig gerüstet. Jetzt dürfte allen klar sein: Für die Welt von morgen braucht es neue Geschäftsmodelle, ein neues Mindset und eine neue Aufstellung. Aber wie entwickelt man so etwas? Das wollten wir von Mario Leutner wissen, der als Geschäftsführer der #MEHRakademie aus Lahr Unternehmer in genau diesen Prozessen begleitet, ermutigt und befähigt.
Eines ist sicher: So wie früher wird unsere Welt nach dieser Krise wohl nie wieder sein, oder?
Ein ganz klares Ja! Es ist sicherlich abhängig von der Dauer der Corona-Krise, wobei sich auch in den letzten Jahren die Welt – vor allem die Businesswelt – rasant verändert. Per Moment geschieht dies allerdings in überdimensionaler Geschwindigkeit. ‚VUKA‘ findet während Corona nahezu täglich statt.
In vielen Betrieben macht man sich Gedanken über die Zukunft. Was wollen wir anders machen? Welche unserer Geschäftsfelder haben Zukunft? Bevor man aber diese Million-Dollar-Question beantworten kann: Wie beginnt man so einen Prozess?
Zuerst muss die Einsicht und Bereitschaft da sein, etwas ändern zu wollen. Dann geht es darum, zum Prozessstart eine klare Vision oder Zielsetzung für die Zukunft zu finden und sich – bitte, bitte – auf keinen Fall mit dem beschäftigen, was momentan schlecht läuft. Zur Erarbeitung eignen sich unter anderem diese Fragestellungen: ‚Angenommen, wir schreiben den 30.12.2022. Was ist da anders, besser als heute? Woran merken wir das? Was sagen unsere Kunden über uns? Was für Ziele haben wir erreicht? Wie ist es uns gelungen, dieses tolle Ergebnis zu erreichen? Was waren die Big Points, die darauf eingezahlt haben?‘ Geht das auch per Telefonkonferenz? Einen kompletten Change-Prozess per Telefon- oder Videokonferenz zu gestalten, halte ich für sehr anspruchsvoll. Allerdings animieren wir auf jeden Fall jetzt schon dazu, sich im Führungskreis auch mit folgenden Fragen zu beschäftigen: ‚Was für Learnings aus der Krise nehmen wir mit? Was für eine Unternehmenskultur braucht es zukünftig, um noch agiler und souveräner mit Veränderungen umgehen zu können? Welche (digitalen) Tools und Kompetenzen können uns hier helfen?‘ – und diese Fragen könnte man zum Start durchaus in einer Telko oder Videokonferenz diskutieren, erste Punkte sammeln, um danach zeitnah den Transformationsprozess anzustoßen.
Was für Regeln braucht es für die Diskussion, um mit dem Team eine neue Strategie zu entwickeln?
Auf jeden Fall ‚Lösungs- statt Problemorientierung‘ und – ganz wichtig – ‚Verwerten statt bewerten!‘ Sie kennen das sicherlich aus Diskussionen oder sogenannten Brainstorming-Runden: Ein Teilnehmer nennt eine kreative, interessante, verrückte Idee und prompt kommen von einigen Teilnehmern in Sekundenschnelle Gegenargumente, warum das nicht geht. Das ist natürlich ein absoluter Innovations- bzw. Ideenkiller, aber leider die gelebte Praxis. So rate ich allen, Ideen erst mal wirken zu lassen, bevor man sie gleich mit gut oder schlecht bewertet. Ist dafür ein Moderator sinnvoll oder braucht es den nicht zwingend? Ganz klar braucht es Treiber, Coaches, Moderatoren, Verantwortliche und Leitplanken wie die eben erwähnten Regeln für den Transformationsprozess. Ein klassischer ‚Moderator‘ ist eigentlich eine neutrale Person, der eine Gruppe unterstützt, zum Beispiel Lösungen effizient und eigenverantwortlich zu entwickeln. Hierzu braucht es bestenfalls einen oder mehrere Führungskräfte im Unternehmen, die über die nötigen Moderations-, Kommunikations- bzw. Coachingkompetenzen verfügen, um den Prozess mit internen Ressourcen steuern und entwickeln zu können. Wichtig ist auch, dem Change-Prozess einen ‚agilen Charakter‘ zu geben. Übrigens: Durch Führungskräfte mit Coachingkompetenzen könnte hier immens Geld eingespart werden, statt sich immer wieder teure externe Berater einzukaufen.
Was sollte am Ende eines solchen Prozesses stehen? Eine Art Fünf-Jahres-Plan? Eine Roadmap? So etwas wie ein Ziel? Oder ein verändertes Mindset?
Auf jeden Fall eine Vision, daraus resultierend konkrete Ziele und daraus resultierend eine Strategie, etwa in Form einer Roadmap oder Strategymap, die definiert, wer was, warum, wie und bis wann zu tun hat. Die Bereitschaft für ein verändertes Mindset muss von Beginn an stetig im Fokus stehen, das ist ganz wichtig! Bezüglich eines ‚Fünf-Jahres-Plans‘ – da tendiere ich eher zu einem Nein.
Für wie lange kann man in diesen Zeiten überhaupt planen?
Ich würde mich derzeit nicht zu lange mit dieser Frage beschäftigen, weil die Beantwortung je nach Branche und ‚Fitnesszustand‘ des Unternehmens sicherlich unterschiedlich ausfällt. Die primäre Aufgabe ist eher, sich dahin zu entwickeln, wie man zukünftig agiler reagieren kann. Hier hat Corona in Sachen Unternehmenskultur, Kommunikation und digitale Reife leider manchen die Grenzen aufgezeigt.
Angenommen: Man hat eine kluge, zukunftsfähige Strategie entwickelt. Wie kriegt man Teams und Mitarbeiter dazu, das auch zu leben? In dem man erstens ein homogenes Führungssteam mit entsprechenden Kompetenzen und ‚Lust auf Zukunft‘ als Fundament hat, das absolut hinter der neuen Vision, Strategie, Philosophie, Zielsetzung steht sowie diese auch wahrnehmbar vorlebt. Da gibt es nach meiner Erfahrung noch zu viele ‚Ausreißer‘ und ich verstehe nicht, warum dies noch geduldet wird. Zweitens: Indem man bestenfalls von Beginn an zumindest einen Teil der Mitarbeiter in den Change-Prozess integriert hat. Drittens, indem man, von Beginn an, das ‚Wieso, weshalb, warum‘ kommuniziert, stetig über den Change-Prozess informiert und diesen reflektiert. Und schließlich viertens – Königsklasse –, indem man alle für den Erfolg relevanten Systeme berücksichtigt und weiterentwickelt. Das heißt, sich immer zu fragen: ‚Wenn ich X verändere beziehungsweise verändern will, welche Auswirkungen hat dies auch für A, B, C etc.?‘ Der systemische Ansatz, der in der Praxis leider sehr oft missachtet wurde, gewinnt mehr denn je an Bedeutung! Nur so können Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit einen großen Teil der Mitarbeiter für die Veränderungsschritte gewinnen und einen ganzheitlichen Change-Prozess gewährleisten.
Mal andersherum gefragt: Womit hat man die besten Chancen, einen Rohrkrepierer zu entwickeln?
Unrealistische Vision beziehungsweise Zielsetzung, heterogenes Führungsteam, keine Unternehmenskommunikation nach innen und außen, keine Integration der Mitarbeiter,
fehlende systemische Betrachtung und Nachhaltigkeit sowie
nicht auf dem Stuhl des Kunden sitzen.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Thema Führung?
Die allergrößte! Leider hat dies Corona auch deutlicher denn je gemacht. Wer sein Team noch nicht zu eigenständigem Denken und Handeln entwickelt, wer selbst zum Thema ‚Digitalisierung‘ noch keine Kompetenzen und Strukturen geschaffen hat, der wird jetzt der große Verlierer unter den Chefs sein. Denn was wird nun in einigen Unternehmen wohl geschehen: Man versucht das Geld zusammenzuhalten, Kosten runterzufahren und trotzdem das Geschäft am Laufen zu halten. Da sind Ideen und intrinsische Motivation von jedem Einzelnen gefragt. Wenn ein Unternehmen sich nicht spätestens jetzt mit ‚Leitplanken der Führung‘ beschäftigt und den relevanten Führungskräften entsprechende Führungskompetenzen vermittelt, wird nach wie vor jede Führungskraft weiter führen, wie er oder sie es für richtig hält. Überlegen Sie bitte selbst, wieviel Sinn das macht!
Wie agiert die perfekte Führungskraft von morgen?
Sie agiert wertschätzend, ziel- und aufgabenorientiert. Sie ist Sinnstifter, Beteiliger, Befähiger, Personalentwickler, Vernetzer, Begleiter und digitales Vorbild. Das sind jetzt aber keine neuen Erkenntnisse, sondern ein Entwicklungsweg, der sich schon über die letzten Jahre abgezeichnet und seine Wurzeln im kooperativen Führungsstil hat. Als ‚Nachfolger‘ haben nun die ‚transformationale Führung‘ beziehungsweise ‚Digital Leadership‘ den kooperativen Führungsstil abgelöst.
Was für Typen brauchen wir für die Zukunft? Bulldozer vom Typ Elon Musk? Elder Statesmen vom Schlage eines Dietmar Hopp? Oder agile Querdenker wie zum Beispiel Fritz Keller?
Ich werde Ihnen als Antwort nicht eine Person nennen, jedoch ist das Beispiel richtig gut und ich stelle eine Frage zurück: Was haben wohl alle drei Personen gemeinsam? Ich sehe hier Menschen mit Visionen, Zielorientierung, der Fähigkeit, Chancen wahrzunehmen, Experimentierfreudigkeit, Nachhaltigkeit und mit Sicherheit einem hohen Maßan Agilität, um schnell reagieren zu können.
Welche Fehler sollte man unbedingt vermeiden?
Über ‚Rohrkrepierer‘ haben wir schon gesprochen. Was ich in Change-Prozessen ergänzend wahrnehme ist, dass die definierten Schritte nicht sauber abgearbeitet werden und man sich eher schon mit der nächsten oder gar übernächsten Stufe beschäftigt – es soll ja immer alles schnell gehen. Stellen Sie sich mal vor, Sie müssen aus Holzklötzen einen Turm bauen und haben die ersten drei, vier Klötze sehr schlampig aufeinandergestellt… Spätestens beim nächsten oder übernächsten Klotz fällt der Turm in sich zusammen. Sie verstehen, was ich meine? Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum Change-Prozesse so oft scheitern.
Eines zeichnet sich jetzt schon ab: Not macht digital. Plötzlich lassen sich dann doch viele
Dinge digital lösen, die früher ganz selbstverständlich analog waren. Steuern wir damit auf
einen neuen Generationskonflikt zu?
Von einem Generationskonflikt würde ich beim Thema ‚Digitalisierung‘ noch nicht sprechen. Eines nehme ich allerdings sehr deutlich wahr: Mitarbeiter sind, bezüglich ihrer Digitalkompetenzen, in der Regel wesentlich offener beziehungsweise fitter als Führungskräfte. Laut einer Befragung der Fachzeitschrift ‚Managerseminare‘ sind 89 Prozent der Führungskräfte in Deutschland nicht fit genug für den digitalen Wandel. Mir ist hier erst einmal egal ob dieser Wert stimmt, auch wenn es nur 40 Prozent wären, ist es schon schlimm genug – wohlgemerkt in Zeiten, in denen man von ‚Digital Leadership‘ spricht! Zudem habe auch ich bisher kaum Unternehmen kennengelernt, welche konkret definiert haben, welche Digitalkompetenzen von Führungskräften und Mitarbeitern denn erwartet werden. Dies sollte schleunigst nachgeholt werden! Ergänzend sehe ich eher beim Thema ‚Wertebewusstein‘ verschiedener Mitarbeitergenerationen einen Generationskonflikt. Gerade die ‚Generation Y‘ und ‚Generation Z‘ (24- bis 40-Jährige sowie 23-Jährige und jünger, Anm. d. Red.) ticken verständlicherweise zu den Themen ‚New Work‘ und ‚New Learning‘ etwas anders als vorangegangene Generationen. Leider wird dies noch oft missachtet. Fatal, gerade was die Potenzialträger von morgen angeht. Wie ist das eigentlich:
Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, was die Bereitschaft angeht, auf neue Technik und digitale Lösungen zu setzen?
(lacht) Diese Frage soll bestenfalls Mario Barth beantworten… Im Ernst: Was die Bereitschaft angeht, würde ich keine großen Unterschiede generalisieren. Unterschiede nehme ich eher in der Vorgehensweise zur Wissensaneignung wahr.
Letzte Frage. Was wird am Ende über die Zukunft unserer Welt entscheiden? Künstliche Intelligenz oder emotionale?
Im Unternehmenskontext ist das, für mich, ganz klar die emotionale Intelligenz, die sich bestenfalls – effektiv und kritisch hinterfragend – die künstliche Intelligenz zunutze macht
Ein Interview von Ulf Tietge, Jigal Fichtner