Badens Landwirtschaft arbeitet mit immer digitaleren Helfern. Ob Mehltau oder Milben zu bekämpfen sind, erfahren Winzer über das Prognosesystem Vitimeteo, das vom Staatlichen Weinbauinstitut ersonnen wurde
Es gibt die romantische Vorstellung vom netten Winzer. Vom Naturburschen, der geradezu spürt, was seine Pflanzen gerade brauchen. Der mit Reben reden kann und Rosen pflanzt, um rechtzeitig vor Schädlingen gewarnt zu werden.
Nur: Das ist Marketing. Eine Scheinwelt, die mit der Realität wenig zu tun hat. In Wirklichkeit sind gute Winzer heute Biologen und Chemiker und setzen auf digitale Unterstützung, um eine vernünftige Ernte einzufahren und dem Massensterben der selbstständigen Winzer zu entgehen. Ohne digitale Erntehelfer, Pflanzenschutz und ein cleveres Prognosesystem dahinter geht es nicht mehr – da ist man sich in der Branche ausnahmsweise einig.
Eines dieser neuen Systeme heißt Vitimeteo. Es unterstützt Winzer in Sachen Pflanzenschutz als Allrounder im Weinberg. 400 000 Zugriffe im Jahr werden registriert. Das digitale Prognosesystem ist vom Staatlichen Weinbauinstitut Freiburg in Kooperation mit der Schweizer Forschungseinrichtung Agroscope und der südbadischen Firma Geosens entwickelt worden. Sinn und Zweck ist es, „einen vernünftigen Pflanzenschutz“ zu ermöglichen, bei dem nicht mehr Schadstoffe auf die Reben ausgebracht werden als nötig.
Ganz in Frage stellen will oder kann man die Spritzerei eben nicht. „Pflanzenschutz ist eine Notwendigkeit“, sagt Gottfried Bleyer, Entwickler von Vitimeteo am ökologischen Referat des Weinbauinstituts. „Pflanzenschutz muss wirksam sein und vernünftig – egal, ob Ökoweinbau oder nicht.“ Mit dieser Einstellung hat das Freiburger System weltweit Karriere gemacht: Genutzt wird Vitimeteo nicht mehr nur im Ländle, sondern auf mehr als 175 000 Hektar in sieben europäischen Ländern.
Das System hilft dabei, zusammen mit dem Anwender den nächsten Spritztermin festzulegen. Dazu nutzt es aktuelle Wetterdaten und wissenschaftliche Prognosemodelle, eines für jede Krankheit und jeden Schädling. Der Baustein, mit dem alles begonnen hat, nennt sich „VM Plasmopara“, das Modell für die Prognose der Rebenperonospora. Bei dieser Krankheit, auch bekannt als Falscher Mehltau, handelt es sich um einen Pilzbefall. Diesen fürchten die Winzer in der Rhein ebene noch mehr als den Echten Mehltau (Oidium), denn der Falsche Mehltau führte Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu enormen Ernteausfällen. „Unser Institutsgründer Prof. Dr. Karl Müller hat dazu geforscht und mit seinen Berechnungen zur Inkubationszeit anhand der Temperatur die Grundlage unseres heutigen Systems geschaffen“, erzählt Gottfried Bleyer von den Anfängen des gezielten Rebenschutzes. Seit Beginn der digitalen Umsetzung sind immer mehr Bausteine dazugekommen, etwa die Modelle für die Berechnung des Echten Mehltaus, des Insektenflugs oder des Wachstums. Mit letzterem lässt sich die Wirkdauer von Fungiziden voraussagen.
In der Praxis sieht das so aus: Auf der Internetseite klickt der Winzer auf sein Thema: eine Krankheit, ein Schädling oder das Wetter. Dann erscheinen Tabellen mit Tagen und Farbflächen. Bei der Rebenperonospora sind die ungefährlichen Tage grün markiert, die mit Infektionsrisiko rot. Reine Prognosedaten wiederum sind grau markiert. Klickt der Nutzer auf einen bestimmten Ort, gibt ihm das Programm zwei Grafiken aus. Auf einer sind unter anderem Niederschlagsmenge, Blattnässe und Blattwachstum verzeichnet – das System sagt voraus, an welchem Tag wie viele Blätter der Pflanze gewachsen sind und mit welcher Fläche. Bei einer weiteren Grafik wird es komplexer: Sie erfasst zusätzlich noch Daten zu Sporenmenge und -absterben, Keimbereitschaft, Inkubation und Infektion – alles für die Vergangenheit, die Gegenwart und die kommenden sieben Tage.
Die Möglichkeit der Prognose über diesen Zeitraum war 2009 ein Meilenstein. „Die Trends sind gut“, sagt Gottfried Bleyer über den Blick in die Zukunft, „vor allem bei der Temperatur“. Darin liegt der Nutzen von Vitimeteo: Der Winzer kann behandeln, bevor der Befall da ist, beziehungsweise bei vorhandenem Befall die Ausbreitung stoppen. Da Rebschutz besser protektiv (schützend) als kurativ (heilend) funktioniert, ist ein Frühwarnsystem sehr hilfreich. Infektionen sind trotzdem nicht hundertprozentig auszuschließen. „Pflanzenschutz ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung“, sagt Staatsweingutsleiter Bernhard Huber. „Selbst mit der besten Spritztechnik benetze ich nur bis zu 70 Prozent der Blattfläche. Da muss ich abschätzen, wie lange das Spritzen bei welcher Sporenmenge ausreicht. Unter Umständen genügt es, jede zweite Reihe zu behandeln“.
Huber bewirtschaftet mit seinen Mitarbeitern auf dem Blankenhornsberg 24 Hektar. Um alle Reihen zu spritzen, fahren vier Maschinen zehn Stunden lang. Ein Kostenfaktor. Der Leiter des Staatsweinguts addiert daher auch Faktoren wie Befahrbarkeit zur Theorie von Vitimeteo: „Das WBI hat sich bewusst für diese Art System entschieden. Wir wollten dem Winzer Freiheit lassen und kein ‚Go-to-spray-System‘, das den Menschen einfach rausschickt. Das Modell rechnet, wir denken. So wie beim Taschenrechner.“ Für Johannes Werner, Weinbauberater der Ortenau, bringt Vitimeteo einen Überblick: „Ich sehe sofort, worauf ich meine Winzer aufmerksam machen muss.“ Die Weinbauberater der Landratsämter verschicken dafür wööchentlich ihren Infodienst.
Als Rebschutzwarte melden Winzer Sch den und Befall entweder direkt an Vitimeteo oder an ihren Weinbauberater und schaffen einen Abgleich mit den Prognosen. Für die Zukunft steht die Überarbeitung der mobilen App an. Eine Kopplung mit weiteren digitalen Helfern wird ebenfalls durchgespielt. Fest zu rechnen sei damit, dass Rechenmodelle die Messungen ersetzen. Das digitale Zeitalter ist also auch beim Wein längst angekommen, auch wenn sich Gottfried Bleyer noch gut an die Zeiten erinnert, als draußen noch mit Thermohygrograph gearbeitet und am Institut händisch gerechnet wurde. Später kamen Wetterstationen mit integrierten Rechenmodellen dazu. Mit GSM-Handys und GPRS- Übertragung war die Zeit für eine zentrale Rechnung reif. Der neue Mobilfunkstandard 5G als Wegbereiter für das Internet of Things ist an der Weinrebe bisher nicht nötig – aber das wird wohl noch kommen.
Ein Beitrag von Thomas Glanzmann, Fotos: www.shutterstock.com/Juan