Der Freiburger Onkologe Dr. Norbert Marschner ist ein progressiv denkender Geist. Sein Unternehmen Iomedico hat mithilfe digitaler Medien die Effektivität von Krebstherapien transparenter gemacht und die Lebensqualität von Tumorpatienten verbessert. Jetzt steht der nächste Meilenstein bevor
Wir sind heute um 14 Uhr eigentlich mit dem Onkologen Dr. Norbert Marschner am Sitz von Iomedico in Freiburg verabredet. Unser Treffen fällt allerdings ausgerechnet auf Montag, den 2. November. Erster Tag des neuen Lockdowns und für uns wie ein Déjà-vu. Bereits im März ließen wir eine Verabredung an einem der ersten Lockdown-Tage platzen. Im Berufsalltag haben sich seitdem jedoch neue Routinen eingespielt – und bewährt. Auch bei Iomedico, wo rund die Hälfte der Belegschaft seit einem halben Jahr im Homeoffice arbeitet. Also vereinbaren wir spontan ein virtuelles Treffen via Zoom … Die Performance habe unter der Umstellung der Workflows nicht gelitten, sagt Dr. Marschner gleich zu Beginn des Gesprächs. „Wir sind ein digitales Unternehmen, das war kein großer Schritt.“ Was heute selbstverständlich klingt, ist bei Iomedico seit Mitte der 1990er-Jahre zentraler Bestandteil des Unternehmens. Damit nahm man schon früh eine Vorreiterrolle ein. Man bedenke, Microsofts erster Browser überhaupt, der Internet Explorer, war damals gerade erst erschienen. Das World Wide Web war wirklich noch absolutes Neuland. Dr. Norbert Marschner aber ist ein progressiv denkender Geist. Die Chancen der Digitalisierung erkannte er schon, als das für andere noch pure Science-Fiction war. Bereits Anfang der 1990er-Jahre hatte Dr. Marschner eine Vision: die Daten von Patienten zu digitalisieren, um Krebserkrankungen besser analysieren und therapieren zu können. Nachdem er 1993 in Freiburg die erste onkologische Schwerpunktpraxis für Südbaden gegründet hatte, war die Zeit reif, sein Vorhaben umzusetzen. Dafür sei er damals von vielen Kollegen belächelt worden, sagt Dr. Marschner rückblickend. Sie lagen jedoch falsch. Heute hat Iomedico 115 Mitarbeiter und ist deutschlandweit eines der führenden Unternehmen in der digitalen Dokumentation und Analyse sogenannter Real World Data. Das sind Daten, welche den Krankheitsverlauf von Patienten im Behandlungsalltag abbilden und aus denen konkrete Schlüsse für die Therapie in einem onkologischen Zentrum gezogen werden können. Fürs kommende Jahr stehe nun der nächste Meilenstein an. Er könnte die Wissenschaft einen weiteren wichtigen Schritt nach vorne katapultieren. Das Zauberwort: Künstliche Intelligenz in Real World Data.
Ein ganz neuer Ansatz
Begonnen hat Iomedico mit nur einem Partner aus der pharmazeutischen Industrie, blickt Dr. Marschner zurück. Mit einem so kleinen Kundenstamm zu starten, „war ambitioniert und sehr mutig“, sagt Marschner. „Unser Ansatz war damals so futuristisch, dass wir in unseren Anfangsjahren Probleme hatten, weitere Pharmaunternehmen als Partner zu gewinnen. Das hat uns schwer gehandicapt. Wir haben lange defizitär gearbeitet. Aber wir haben immer daran geglaubt.“ Irgendwann habe die Industrie übernommen und der Knoten sei geplatzt. „Immer mehr Unternehmen wollten plötzlich kooperieren. Das war die Zeitenwende für uns“, sagt Marschner.
Software statt Papier
Dazu sollte man wissen: Mitte der 1990er-Jahre war es üblich, klinische Daten auf Papier zu erfassen. Dr. Marschner und sein Team entwickelten eine Software, die die wissenschaftlichen Daten der Patienten nicht nur bundesweit sammelte, sondern auch die Möglichkeit bot, diese weiterzuverarbeiten und zu analysieren. Die Idee: onkologische Behandlungsdaten bundesweit digital und repräsentativ zu dokumentieren, um Tumorpatienten künftig individueller, zielgenauer und damit auch erfolgversprechender zu therapieren. Grundlage dafür war Electronic Data Capturing, kurz EDC. Darunter ist die digitale Erfassung von klinischen Daten zu verstehen. Sie werden im Medizinbereich in der Regel im Rahmen klinischer Studien dokumentiert und mithilfe einer Vielzahl von Ein- und Ausschlusskriterien standardisiert. Das macht Sinn, wenn es darum geht, allgemeine Aussagen zur Wirksamkeit und zu Nebenwirkungen von innovativen Therapien im Vergleich zum bestehenden Standard zu treffen. Denn eine klinisch bedeutsame Begleiterkrankung kann das Gesamtergebnis verzerren. „Für die spezifische Behandlung einzelner Patienten im klinischen Alltag allerdings sind die Erkenntnisse klassischer klinischer Studien häufig nur bedingt aussagekräftig“, sagt Marschner. Das Problem: Wer einen Tumor hat, leidet häufig eben gerade auch unter solchen Begleiterkrankungen. Schließlich ist Krebs eine klassische Alterserkrankung und das Alter bringt bekanntermaßen vermehrt körperliche Begleiterkrankungen mit sich. Das betreffe bis zu 50 Prozent aller Patienten, unterstreicht Marschner, und führe dazu, dass die Daten älterer Menschen in Studien häufig gar nicht erst eingebracht werden können. Die Folge: Die Patienten sind darin im Schnitt deutlich jünger als in der Realität. „Der Effekt ist enorm. Im Alltag sind unsere Patienten im Vergleich zu klinischen Studien bis zu acht Jahre älter.“
Die Lösung heißt Real World Data. Im Gegensatz zu Daten, die in klinische Studien einfließen, werden Real World Data nicht von Ausreißern bereinigt, sondern spiegeln den Krankheitsverlauf von allen Patienten, mit denen es Ärzte im Alltag zu tun, wider – auch wenn sie Begleiterkrankungen haben. „Das macht unsere Daten lebensnäher als die Daten klassischer klinischer Studien“, betont Marschner. „Sie sind für die Praxis hochrelevant.“ Am Ende brauche man sicher beides, „klassische klinische Studien, um Medikamente mit Blick auf Wirksamkeit und Risiken exakt einordnen zu können. Real World Data aber punkten bei der Entscheidung, welche Therapien im konkreten Fall am besten geeignet sind.“
Think big!
Das Projekt der Zukunft heißt Big Data, die Sammlung noch umfangreicherer Datenmengen also, die eigentlich zu groß, komplex, schnelllebig und unstrukturiert sind, um sie zu durchleuchten. Der technologische Fortschritt ermöglicht heute genau das, was in vielen Bereichen der Medizin einem Quantensprung gleicht. Iomedico ist dafür ein gutes Beispiel. 2006 begann das Unternehmen mit dem Aufbau einer Datenbank. Sie umfasst mittlerweile mehr als 90 000 Patienten – und sie wächst stetig. Mehr als 800 Onkologen in Schwerpunktpraxen und 500 Klinikärzte aus ganz Deutschland nutzen das System und speisen darüber ihre Daten ein. Das sind rund 40 Prozent aller onkologischen Zentren in Deutschland.
„Es gibt einen Satz, den wir immer wieder von unseren Patienten hören“, sagt Dr. Marschner. „Sie wollen so lange wie möglich, aber auch so gut wie möglich leben. Sie wollen nicht zwei Monate hinzugewinnen, dafür aber massiv an Lebensqualität einbüßen. Mithilfe künstlicher Intelligenz können wir in Zukunft bessere Behandlungsstrategien identifizieren und umsetzen.“ Schon Ende des Jahres soll der von Iomedico und seinen Partnern entwickelte Prototyp fertiggestellt sein. Die Technologie soll Onkologen ermöglichen,
die Therapie viel präziser an der individuellen Krankheitsgeschichte und den Wünschen ihrer Patienten auszurichten, als das bislang möglich war. Wie ein guter Bogenschütze seinen Pfeil zielgenau ins Schwarze bringt, soll auch die Therapie den Tumor möglichst genau treffen. Das würde eine maßgebliche m Verbesserung der Lebensqualität von Tumorpatienten bedeuten.
Der große Vorteil der neuen Technologie: Sie beruht auf Schwarmintelligenz. „Je mehr Daten wir einspeisen, desto präziser werden die Analysen“, erklärt Dr. Marschner. „In der Regel geht ein Onkologe davon aus: Wenn ich Patienten besonders intensiv behandle, erreiche ich bessere Behandlungsergebnisse. Aber das stimmt vielleicht gar nicht. Vielleicht bringt eine defensivere Therapie viel mehr Nutzen. Bereits heute gib es Analyse-Ergebnisse, die darauf hindeuten, dass intensive Therapien in speziellen Situationen eher nicht so geschickt sind. Mit den neuen KI-Anwendungen werden wir das 2021 deutlich besser darstellen können.“
Bislang konzentriere sich Iomedico zu 80 bis 90 Prozent auf Deutschland, so Marschner. Es liegt aber auf
der Hand, dass es perspektivisch Sinn machen würde, die Reichweite weiter auszubauen. Ob eine globale Erweiterung der Datenbank denkbar wäre, wollen wir wissen. „Eine Globalisierung der Datenbank?“. Marschner muss zuerst leicht schmunzeln, antwortet dann aber uneitel und pragmatisch: „Schauen Sie mich an. Das ist was für die nächste Generation und natürlich braucht man dafür gute Partner an seiner Seite.“ Wer das sein könnte, lässt er offen. Der Eindruck, der bleibt: Es klingt vielversprechend.
Ein Beitrag von Uli Kammerer, Foto: Iomedico AG